Reform der Reform

Im August 2006 ist ein neues Genossenschaftsgesetz in Kraft getreten. Die Änderung des alten Genossenschaftsgesetzes von 1889 wurde als Reform gepriesen. Als äußeres Zeichen der "Modernisierung" heißen die Genossen nicht mehr Genossen, sondern Mitglieder.

Dabei hätte die Reform die Chance geboten, die Genossenschaften zu de­mo­kra­ti­sie­ren, indem die Mitwirkungsrechte der Mitglieder gestärkt wor­den wären. Aber in die Diskussion über ein neues Gesetz wurden die 20 Milli­onen Mitglieder der Genossenschaften in Deutschland nicht ein­be­zo­gen. Nach ihrer Meinung gefragt wurden vom Bundesjustizministerium allein die Genossenschaftsverbände: die Raiffeisengenossenschaften, die Genossenschaftsbanken, der Gesamtverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen GdW, der Verband der Konsumgenossenschaften usw. Diese wiederum fragten nur die Vorstände und Aufsichtsräte nach ihrer Meinung, lehnten es aber ab, direkt mit Genossenschaftsmitgliedern zu sprechen, wie z.B. der Gesamtverband der Wohnungs- und Immo­bi­li­en­un­ter­neh­men. Auch die Vorstände befragten nicht die Mitglieder, sondern hiel­ten es für ausreichend, wenn sich die Verbände untereinander austauschten. Auf diese Art und Weise haben die einfachen Genossenschaftsmitglieder weder eine Organisation noch ein Sprachrohr, um ihre Meinung sagen zu können. Mehr noch: die Masse der Mitglieder erfuhr nicht einmal, dass etwas geändert werden sollte. Auch für die Presse war das Thema kaum interessant, denn es trat keine Opposition in Erscheinung.

Seit langem werden die Verfestigung der Strukturen, die formalen Rituale bei Wahlen und Rechenschaftslegungen sowie der Abbau demokratischer Gepflogenheiten in den Genossenschaften beklagt.

Worauf wäre es bei einer Demokratisierung angekommen? Das wich­tig­ste wäre die Wiederherstellung der Pflicht des Vorstands gewesen, Wei­sun­gen der Generalversammlung auszuführen. Diese Klausel war bereits bei einer Neufassung des Gesetzes 1973 gestrichen worden. Stattdessen gilt nun: "Der Vorstand hat die Genossenschaft unter eigener Verantwortung zu leiten." (§ 27 des Gesetzes). Das heißt, der Vorstand kann ohne Einflussnahme der Mitglieder machen, was er für richtig hält. Das bekommen die Mitglieder der Wohnungsgenossenschaften zu spüren, denen die Vorstände Modernisierungen mit erheblicher Mieterhöhung oder Schönheitsreparaturen ohne Notwendigkeit aufzwingen können. Die Macht der Vorstände ist praktisch unbegrenzt.

Die Mitgliederrechte wurden nur geringfügig verbessert, z.B. das Recht auf Aushändigung eines Protokolls der Vertreterversammlung oder auf Einsicht in den Prüfbericht. Der Vorstand ist verpflichtet, die Mitglieder eine Woche vor der Vertreterversammlung über die Tagesordnung und die Anträge zu informieren.

Nicht aufgenommen wurden das Recht jedes Mitglieds, eine Mit­glie­der­liste zu erhalten und das Recht zur Anfechtung der Beschlüsse der Vertreterversammlung. Nicht abgesenkt wurde die 10-Prozent-Schwelle der Anzahl der Mitglieder, die die Einberufung einer Ver­tre­ter­ver­samm­lung beantragen können.

Wo das Gesetz Lockerungen enthält, werden diese durch die Mu­ster­sat­zun­gen der Verbände wieder aufgehoben, z.B. ist entgegen dem Gesetz nicht enthalten, dass in großen Genossenschaften mit Ver­tre­ter­ver­samm­lung die Generalversammlung zur Abschaffung der Vertreterversammlung einberufen werden kann und dass der Generalversammlung bestimmte Entscheidungen vorbehalten werden können. Wenn 10 Prozent der Mit­glie­der eine Vertreterversammlung fordern, dürfen sie an der Versammlung teilnehmen, aber ihr gesetzliches Rede- und Antragsrecht darf nur ein Bevollmächtigter ausüben.

Die Rechte der Mitglieder werden erheblich beschnitten durch die Regelung, wonach in den Vorstand und den Aufsichtsrat nicht mehr ausschließlich natürliche Personen gewählt werden können, die selbst Mitglied sind. Jetzt dürfen auch Manager von Personengesellschaften (Banken, Immobilienunternehmen, Anwaltskanzleien, Bau- und Beratungsfirmen usw.) in den Vorstand und in den Aufsichtsrat gewählt werden. Dort vertreten sie die Interessen ihrer Firma, während die Interessen der Mitglieder an Gewicht verlieren. Im Aufsichtsrat besetzen sie faktisch die Kontrollinstanz.

Die Einschränkung der Mitgliederrechte geht einher mit ihrer Dis­zi­pli­nie­rung. In der Mustersatzung wird vorgeschrieben, dass die Nutzung von Wohnungen vorrangig oder ausschließlich Mitgliedern der Genossenschaft zusteht. Das steht nicht im Gesetz! Wer dem Vorstand missliebig ist, kann folglich ausgeschlossen werden und verliert seine Wohnung. Der Vorstand kann ein Insolvenzverfahren beantragen, wenn ein Mitglied Mietschulden hat, und kann das Mitglied sofort ausschließen. Das trifft vor allem Arbeitslose und Arme, die in Not geraten. Statt genossenschaftlicher Solidarität übt man Ausgrenzung.

Die über lange Zeit gewachsene Machtstellung der Dachverbände zwingt den Genossenschaften Satzungen auf, die die Mitgliederrechte und die genossenschaftliche Demokratie erheblich einschränken.

Die "Genossenschaftsreform" von 2006 brachte keinen Fortschritt, son­dern den Abbau von Demokratie und Mitgliederrechten. Das ist nur zu ändern durch eine Reform der "Reform". Dafür setzt sich die Initiative "Genossenschaft von unten" ein.

25.10.2010
Dr. Sigurd Schulze